Drei Muscheln von Juan

Strand von Donana

Foto: Janko Zehe

“Nein, da hätten Sie eine Tour buchen müssen.” Der spanische Ranger macht unsere Besichtigungspläne zunichte, kaum dass sie begonnen haben. Wir stehen im Parque Nacional de Doñana, Dutzende Mücken saugen hingebungsvoll von unserem Blut, der Wind rauscht in den Kiefern. Vor uns liegen die Weiten des Nationalparks, der berühmt ist für seine Reiher und Löffler, die hier zu Tausenden nisten. Adler und Milan wohnen dort, Luchse streifen durchs Unterholz – aber wir dürfen nicht rein. “Nur bei Voranmeldung”, macht der Ranger in einer Mischung aus Spanisch, Englisch, Händen und Füßen deutlich und nennt eine Adresse in Sanlúcar, das wir vor 20 Minuten mit der Fähre verlassen haben. Okay, also kein Parque Nacional. Mierda!

Für den Strand aber muss man sich nicht anmelden. Kilometerlang erstreckt er sich am Rand der Dünen, die Zentimeter für Zentimeter die Schirmkiefern unter sich begraben und das Schutzgebiet zur Meerseite abgrenzen. Anders als an den Badestränden von Conil, Cádiz oder Chiclana ist es hier weniger “ordentlich”: Die Muscheln, die der Atlantik angespült hat, werden nicht sofort entfernt; man findet Austern, deren Schale rötlich oder grünlich schillert, kleine Muscheln, in denen Perlmutt in strahlendem Violett leuchtet, gewundene Exemplare, von Teer schwarz gefärbt.

Reifenspuren im Sand erinnern daran, dass die Fähre nicht nur uns herübergebracht hat und ab und an hat das Meer eine Plastikflasche hinterlassen. Trotzdem erscheint dieser Ort ganz abgeschieden. Man muss nur hinüberschauen, um Sanlúcar gut sichtbar auf der anderen Seite der Bucht liegen zu sehen – und dennoch wirkt die Zivilisation hier sehr weit weg. Liegt es an der Weite, die sich vor uns ausbreitet? Der Himmel, über den heute die Wolken ziehen, wirkt ebenso endlos wie der blassgelbe Sand. Keine Sonnenschirme. Keine Spaziergänger. Keine Kite-Surfer. Keine Menschenseele.

Fast ist es also überraschend, als plötzlich am Horizont ein Punkt auftaucht, der sich langsam in unsere Richtung bewegt. Als das Gegenlicht einen Umriss freigibt, erkennen wir einen Wanderer: Schmal, bepackt mit einem Trekking-Rucksack, von dem weitere Taschen baumeln. Als aus dem Umriss ein Mensch wird, sieht man zerzauste Haare, ein Gesicht, zerfurcht von Sonne, Wind und Leben, einen fleckigen Pullover, schmuddelige Shorts. Niemand, dem man mehr als ein hola widmen möchte. Weil der Mann zu gut in die Schublade mit den Menschen passt, die vor dem Aldi hocken, umringt von ihrem Besitz in Plastiktüten. Nicken. Wegschauen. Weitergehen. Er passt nicht in diese Weite, zu diesem Urlaubsnachmittag, stört die Illusion von Abgeschiedenheit.

Aber der Mann bleibt stehen. Fragt nach der Fähre und was sie kostet. Verzieht das Gesicht, als wir ihm den Preis nennen. Es geht also um Geld, natürlich. Nur eine kleine Spende.

Dann aber erzählt er seine Geschichte. Ringt uns Aufmerksamkeit ab. Erst hören wir widerwillig zu, dann immer interessierter. Juan ist Portugiese. Und ein Wanderer. Ein Wanderer, unterwegs in Glaubensdingen. Vor vier Jahren ist er bei Bauarbeiten vom Dach gestürzt. Das Knie, die Rippen, der linke Kiefer: zerschmettert. Er habe, erzählt Juan, im Krankenhaus gelegen und sich geschworen zu Pilgern, sollte er je wieder laufen können. Dann nimmt er seine Manschette vom Bein und zeigt das verletzte, von Narben gezeichnete Knie. “Die Ärzte haben ein künstliches Gelenk eingebaut – und jetzt kann ich Pilgern”, sagt er und strahlt. Er war im Vatikan und hat eine Urkunde mit der Unterschrift des Papstes bekommen, die er uns zeigt. So, als müsse er belegen, dass er kein gewöhnlicher Landstreicher ist, kein Penner. Sondern ein Mann mit einer Mission. Er ist schon in Santiago de Compostella gewesen, in Sevilla. Hat an Stränden geschlafen, Muscheln gesammelt und roh gegessen. Die Aufzählung der weiteren Stationen scheitert an der Sprachbarriere, obwohl Juan eine wilde Mischung aus Spanisch und Französisch und wir die Reste unseres Schulfranzösisch bemühen. Aber das Wichtige verstehen wir trotzdem. Er malt ein Datum in den Sand: 16.11.2011. Dann endet seine Pilgerreise und dann hofft er, geheilt zu sein. Oder geht es am Ende gar nicht um Heilung? Sondern um die Hoffnung selbst?

Wir geben ihm Geld für die Fähre und noch etwas für Essen. Juan lacht und freut sich und hält die Hände gen Himmel. Vielleicht sind wir für ihn so etwas wie ein kleines Wunder. Seltsamer Gedanke. Er bittet uns, unsere Namen aufzuschreiben und zeigt auf die Liste, die schon auf dem Zettel steht. “Friends”, sagt Juan und lächelt. Er werde für uns beten. Als wir uns schon verabschiedet haben und weitergegangen sind, ruft er hinter uns her. Er habe noch etwas vergessen. Dann kramt er in seiner Tasche und zieht drei Muscheln heraus. “Pour vous”.

 

 

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