Mein zweites Mal: Bundesjugendspiele

Foto: Maximilian Schönherr

Ich bin mir sicher, dass es Top-Manager gibt, hochbezahlte Führungskräfte, denen das Wort „Bundesjugendspiele“ die Tränen in die Augen treibt. Dann wird aus Bankvorstand Dr. Schmitges nämlich ganz schnell wieder der kleine Karl-Günther, der in jenem Sommer 1978 unter dem Gelächter seiner Klassenkameraden an der Sprunggrube jämmerlich versagte, die Kugel auf erbärmliche 2,40 Meter stieß und mit hochrotem Kopf die 100 Meter mehr stolperte als sprintete.

Ich kann Karl-Günthers Trauma gut nachvollziehen, es ist das meine. Heute würde ich mich als sportlich bezeichnen. Kaum ein Tag, an dem es mich nach dem Rumsitzen im Büro nicht ins Fitness-Studio, auf den Tennisplatz oder an die Kletterwand treiben würde. Küchenpsychologen dürfen an dieser Stelle gerne anmerken, dass ich ja nur die Schmach von damals wettmachen will – sie haben Recht.

Ich habe viele Jahre versucht, dem Thema mit Selbstironie zu begegnen. Wann immer im Freundeskreis das Gespräch auf dieses Sportfest der Jugend kam, habe ich in vorauseilender Eigendemontage gesagt: „Ja ja, die Bundesjugendspiele. Ich hab ja nicht mal einen Blumentopf gewonnen.“ Doch jedes Mal zückte ein kleiner Teufel seinen Dreizack und piekte in mein Ego.

Wenigstens stehe ich mit meinem Unbehagen nicht alleine da. Schon in den 70ern gab es Kritik am Laufen, Werfen, Springen: Der Wettbewerbsgedanke stehe viel zu sehr im Vordergrund, bemängelten junge Sportlehrer, vom Geist antiautoritärer Erziehung beseelt. Manche warfen dem sportlichen Kräftemessen gar vor, zu sehr auf seinen Vorläufern zu gründen, den Reichsjugendspielen und dem „Reichssportwettkampf der Hitlerjugend“.

Tatsächlich hatte sich Ende der 80er, als ich am Kampf um Sieger- und Ehrenurkunde teilnehmen musste, im Vergleich zur nationalsozialistischen Leistungsschau nichts grundsätzlich verändert. Klar, wir liefen nicht mehr zur Ehre des Führers und die Urkunden wurden vom Bundespräsidenten unterschrieben. Aber irgendwie steckte in der Veranstaltung noch immer ein Hauch von Kruppstahl, Leder und Windhunden.

Wohl hatten freundliche Reformpädagogen inzwischen alternative Sportfeste entworfen, heitere Feiern des Bewegungsdrangs, bei denen Frisbee-Scheiben durch Gymnastikreifen geworfen wurden, Gruppenbaumklettern und Kokosnuss-Pflücken auf der Agenda standen. Doch derlei modischer Schnickschnack wurde vielleicht an Gesamtschulen praktiziert – ganz sicher aber nicht an meinem katholischen Privatgymnasium im nördlichen Münsterland.

So keuchte, schwitzte und rackerte ich einige Sommer, um am Ende mit dem immer gleichen Ergebnis dazustehen: Urkunde? Fehlanzeige.

Wie oben bereits erwähnt: Ich bin heute kein Schreibtischhengst und keine Couch-Kartoffel. Und so kam mir, als ich mal wieder auf einer Party meine kleine Leidensgeschichte zum Besten gab, plötzlich der Gedanke: Nimm doch einfach noch mal teil! Heute, so verstärkte sich die Gewissheit in mir, würde ich gewiss mit dem Lorbeer des Siegers nach Hause gehen, zumindest aber mit einer Siegerurkunde. Die könnte ich mir dann gerahmt übers Bett hängen – und endlich, endlich, die Schande wäre getilgt.

Es scheint, was die Bundesjugendspiele angeht, ein seltsames Missverhältnis zu geben. Einerseits sagen selbst diejenigen, die beurkundet heimgingen, dass sie die Veranstaltung gehasst haben; andererseits ergab eine Umfrage aus dem Jahr 2008, dass immer noch fast 80 Prozent der Schulen das Sportfest zumindest hin und wieder durchführen. Angebot und Nachfrage passen irgendwie nicht zusammen. Und doch halten die Lehranstalten eisern an dem traditionellen Konzept fest.

Auch an meiner Schule gibt es immer noch Bundesjugendspiele. Und als habe ein Hollywood-Regisseur ein Set für die sentimentale Heimkehr eines verlorenen Sohnes aufbauen lassen, sieht die Stätte meiner Niederlage auch 20 Jahre später noch genauso aus wie damals: Die Sprintstrecke aus plattgewalzter roter Asche, an deren Rand das Moos wächst; die 1000-Meter-Laufrunde, die in einer langen Geraden endet und von Vogelbeerbäumen gesäumt wird. Die Sprunggrube neben dem Geräteschuppen.

Die Umsetzung meines Plans war erstaunlich einfach. Zwar ist mein alter Sportlehrer inzwischen in Rente, dafür unterrichtet mein einstiger Mathe-Pauker Stefan Schulte die Oberstufenschüler, gegen die ich antreten werde. Das passt insofern ganz gut, als es zwischen Mathe und Sport in der Disziplin „größter Looser“ unentschieden steht.

Herr Schulte hatte mein Vorhaben zwar mit einem leicht süffisanten „Ach, der Markus! Willst es wohl noch mal wissen?“ kommentiert – mir aber sofort seine Klasse 13 zwecks Vergangenheitsbewältigung zur Verfügung gestellt.

18 Jahre. Wenigstens sind die Jungs und Mädels nur fast halb so alt wie ich, hatte ich nach dem Telefonat gedacht. Mir war aber auch klar, dass ich nicht ohne Übung gegen sie antreten sollte. Schließlich bin ich das letzte Mal in eine Sandkiste gesprungen, als Helmut Kohl noch in der Blüte seiner zweiten Amtszeit stand.

So finde ich mich vier Wochen vor dem großen Ereignis in der Leichtathletik-Halle der Sporthochschule Köln wieder. Mein Kletter-Kumpel Matthias ist hier Student und hat mich reingemogelt. Männer mit erstaunlich strammen Oberschenkeln hüpfen über Hochsprunglatten; Frauen mit langen, schlanken Beinen springen gazellengleich über Hürden. Augenblicklich fühle ich mich unsportlich, linkisch, steif.

Ein Gefühl, dass nicht völlig täuscht, denn nach einer Stunde Training ist klar: Sprinten ausbaufähig, Kugelstoßen mäßig, Weitsprung katastrophal. Mir dämmert, wieso ich seinerzeit stets urkundenlos geblieben bin. Matthias macht mir klar, dass es mir in sämtlichen Disziplinen an jedweder Technik mangelt und die kommenden Wochen nur aus einem bestehen werden: üben, üben, üben.

Ab da radele ich ein bis zwei Mal die Woche zur Sporthochschule und stoße und springe und sprinte. Tatsächlich verbessern sich meine Zeiten und Weiten.

Aber als ich an einem warmen, sonnigen Tag das Auto auf dem Parkplatz meines alten Gymnasiums abstelle und zur Sporthalle gehe, ist mir klar: Das wird eng. Viel enger, als ich erwartet hatte.

Die Klasse 13 beäugt mich in einer Mischung aus Interesse und Belustigung. Ein Mittdreißiger, der noch mal um eine Urkunde kämpft? Scheinen die amüsant zu finden. Ich stelle dagegen fest, dass ich nervös bin. Mein Herz klopft.

Als erstes geht es auf die Laufstrecke, 1000 Meter. Ich weiß inzwischen, dass es bei den Jungs drei Hobby-Kicker gibt, die erwartungsgemäß davonziehen. Aber Nummer vier schwächelt nach 300, 400 Metern und zur Hälfte hab ich ihn gepackt. Meine Muskeln schmerzen, die Lunge krampft, aber ich ziehe an und falle mehr ins Ziel als einzulaufen. 3’32! Das ist acht Sekunden unter der Norm für 18-Jährige und fast 40 unter der für mein Alter. Siegerurkunde, du bist mein.

Jetzt aber kriegt mein Traum die befürchteten Tiefschläge: Trotz Training fehlt beim Kugelstoßen ein halber Meter. Beim Weitsprung schaffe ich im letzten Versuch die Norm, allerdings nur die für meine Alterklasse, das ist zu wenig.

So stehe ich am Schluss im Startblock und es geht um alles. Der Regisseur meines Films scheint eine Vorliebe für dramatische Finals zu haben. Dummerweise läuft niemand außer mir die 100 Meter und so gibt es nur mich, die rote Asche und Stefan Schulte, der am Ende der Bahn mit Stoppuhr und Startklappe steht.

Ich würde jetzt gerne von einem Sportwunder erzählen. Wie ich verhalten lossprinte, aber dann über mich hinauswachse und wie ein Pfeil über die Strecke fliege. Aber ich spüre nur meine brennenden Oberschenkel, merke, wie nach 50, 60 Metern die Kraft nachlässt und ich verzweifelt die Ziellinie herbeisehne. 14,7 Sekunden. „Naja, vielleicht waren es auch 14,6“, sagt Herr Schulte freundlich.

Bevor ich die Mail mit seiner Berechnung meiner sportlichen Leistungen öffne, weiß ich eigentlich schon, dass es nicht gereicht hat. Die Zahl im Anhang bestätigt das, mir fehlen 118 Punkte zur Siegerurkunde.

Dirk Niebel wollte, als er noch FDP-Generalsekretär war, Beach-Volleyball und Inline-Skating bei den Bundesjugendspielen einführen. Der Mann ist mir sympathischer, als ich jemals gedacht habe.

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