Einmal Lord sein

Meine Kenntnisse über den britischen Landadel verdanke ich zwei Männern: James Herriot, einem englischen Tierarzt und Schriftsteller, und Herrn Knaup, meinem Englischlehrer. Herriots Bücher verschlang ich als Heranwachsender abends im Bett. Bei ihm kommen die Vertreter der Upperclass als rustikale, tierliebende Sonderlinge vor, die den jungen Veterinär auf ein Tässchen Tee einladen, um über kalbende Kühe und lahmende Jagdhunde zu plaudern. Herr Knaup dagegen hielt vom britischen Adel so viel wie der Papst von einem Kondom-Automaten. Wiewohl er sich mühte, uns ein lupenreines Oxford-Englisch zu lehren, pflegte er die Earls und Dukes, die Lords und Ladys mit einem einzigen verächtlichen Wort zu brandmarken: bloodsuckers, Blutsauger.

Der Sozialdemokrat in mir kann dem nur beipflichten: dieses ganze versnobte Eton-, Cambridge-, Polo-Gedöns – zutiefst scheußlich! Am liebsten würde ich dem verknöcherten Haufen heimlich LSD in den Nachmittagstee mischen.

Zugleich habe ich aber eine Schwäche für tea time , British accent und den distinguierten Look der Aristokratie. Das spiegelt auch der Inhalt meines Kleiderschranks wider. Dufflecoat, Tweedsakko und braune Cordhosen habe ich mir in den vergangenen Jahren gekauft. Regelmäßig zur Herbstzeit überkommt mich die Lust auf countryside . So packe ich noch zwei karierte Hemden, einen schwarzen Cordanzug und drei Paar Burlington-Socken in meinen Koffer.

Wie dem Titelblatt von Horse and Hound entstiegen, will ich aussehen, wenn ich für die nächsten Tage die britische Oberschicht besuche. Meine Gastgeberin heißt Veronica Joly de Lotbinière und hat ein spezielles Tourismuskonzept entwickelt. Nein, eigentlich ist das Wort »Tourismus« viel zu profan für das erlesene Angebot: » More Than Good Manners« (Mehr als gute Sitten) lässt den Besucher Teil einer Welt werden, die er sonst nur aus Filmen, Romanen und Hochglanzmagazinen kennt.

Downham Market, Norfolk. Veronica wartet in ihrem Offroader auf mich, die Sorte Auto, mit dem man Pferdeanhänger zieht und über Kiesauffahrten knirscht. Meine Gastgeberin nimmt die große Sonnenbrille ab und schüttelt mir die Hand. » Erfreut, Sie kennenzulernen.«

Ihr Auto riecht nach Pferdehaar und Hund. Draußen ziehen braungrüne Felder vorbei, wir fahren durch Dörfer, in denen weiß getünchte Häuser mit kleinen, liebevoll gepflegten Vorgärten stehen. Wie ist sie eigentlich auf die Idee gekommen, More Than Good Manners zu gründen? »Wissen Sie, nach außen erscheint unsere Welt verschlossen wie eine Auster. Aber in dieser kleinen Welt kennt jeder jeden. Wir haben dieselben Schulen besucht; jeder weiß, was der andere macht. Warum sollte man Gästen keinen Einblick in unser Leben gewähren?« Es sei nicht schwierig gewesen, Mitstreiter für ihr Projekt zu finden. 20 Freunde und Verwandte, allesamt aus besten Kreisen, arbeiten mit ihr zusammen, öffnen Fremden ihre Häuser und bitten Bürgerliche an ihren Teetisch. Ein königlicher Herold ist darunter, ein Nachfahre von Thomas Cook, eine Benimmlehrerin für die Oberschicht.

Die Kurz-Vita von Veronicas Familie und der ihres Mannes Giles klingt wie aus einem Jane-Austen-Roman. Sie: geborene Levett-Scrivener, verwandt mit Admiral Bligh, Kapitän der Bounty, verwandt mit Sir George Prevost, Oberbefehlshaber der britischen Truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, Ururgroßvater Botschafter in Peking. Er: um einige Ecken verwandt mit Hugh Capet, König von Frankreich 987, verwandt mit Henry VII. Tudor.

Wow. Ich habe keinen blassen Schimmer, was meine Vorfahren 987 so getrieben haben – wahrscheinlich Schweine gehütet.

Die beeindruckende Historie ist das Pfund, mit dem Veronica wuchert, wuchern muss. Ein standesgemäßes Leben ist nämlich kostspielig, auch wenn die Lotbinières noch nicht einmal ein Herrenhaus unterhalten wie viele ihrer Freunde. Allein die Privatschule für die vier Kinder kostet jährlich mal eben 100.000 Euro. Und die Wirtschaftskrise ist nicht spurlos an der Familie vorübergegangen. »Wissen Sie«, sagt Veronica, als wir in die Kieseinfahrt zu ihrem Anwesen einbiegen, »ich habe zwölf Jahre mit Immobilien gehandelt – da wurde es doch mal Zeit für Neues, oder?« Das klingt natürlich netter als: Nach dem Zusammenbruch des Marktes sah ich mich gezwungen, neue Einkommensquellen zu erschließen.

Um die Tradition zu bewahren, ist eine gehörige Portion Pragmatismus nötig. Oder wie Veronica sagt: »Ein verarmter Earl hatte noch nie ein Problem damit, eine reiche Kaufmannstochter zu heiraten – sie kriegte den Titel, er das Geld.« Titel bekommen die zahlenden Gäste aus Deutschland, Frankreich und Amerika zwar nicht bei More Than Good Manners – aber immerhin Gurkensandwiches, serviert von adeliger Hand.

So heißt mich Veronica willkommen in ihrem Heim, einem Pfarrhaus aus dem 16. Jahrhundert samt Pferdestallungen, das umrankt ist von gelben englischen Rosen und umgeben von Weiden. Über den Sisalteppich tollen drei Welpen, die überall Haare und Häufchen hinterlassen. Auf dem Kaminsims stehen neben Sportpokalen cremefarbene Einladungs- und Glückwunschkarten; an den Wänden hängen Fotos der Kinder neben Schleifen für Turniersiege, auf dem Fensterbrett thront ausgestopft der erste Fasan, den die Tochter erlegt hat.

Während manche Gäste Herrenhaus-Hopping betreiben und nur ein, zwei Nächte bleiben, habe ich die Old Rectory als Hauptstützpunkt für meine Erkundungen des britischen Landlebens gewählt. In den einstigen Stallungen hat Veronica Suiten eingerichtet, ich aber bekomme ein Zimmer im Wohnhaus, Tür an Tür mit der Familie. Samtene Kissen sind auf meinem Bett drapiert, der Blick durch das Fenster geht auf grüne Wiesen, auf der Fensterbank liegen Ausgaben der Zeitschrift Country Life.

Ich hatte in meiner Kindheit: einen Dackel. Klavierstunden. Was ich nicht hatte: ein Pferd. Reitunterricht. Dass jemand nicht reiten kann, findet Veronica höchst amüsant, als sie mich nachmittags an der Longe führt. »Es sieht einfach so lustig aus, wenn jemand zum ersten Mal auf einem Pferd sitzt!«, ruft sie mir zu. Ich versuche unterdessen, nicht vom Rücken ihres Hengstes Tonka zu fallen. Veronica selbst saß im Alter von vier Jahren zum ersten Mal im Sattel, ihre Kinder sind darin mehr oder weniger groß geworden. Als wir später zu einem Ausflug in die Nachbarschaft wieder das Auto nehmen, zeigt Veronica auf drei Dörfer, die im Display des Navigationssystems auftauchen: Dennington, Yoxford und Peasenhall. »Die drei Familien, die dort leben, kennen sich seit fast tausend Jahren – und eine davon ist meine.« Ob sie es manchmal als Bürde empfinde, in der Tradition einer endlosen Ahnenreihe zu stehen, frage ich sie. »Ach nein. Wissen Sie, ich liebe Geschichte, ich hatte es am College.« So gesehen scheint es nur konsequent, dass Veronica Joly de Lotbinière jetzt keine Häuser mehr verkauft, sondern die Historie ihrer Besitzer. Wie die von Major Philip Hope-Cobbold, königlicher Husar, ehemaliger Grafschaftsvogt von Suffolk, wohnhaft in Glemham Hall.

Orden und Titel mögen Eindruck schinden. Eine Garantie für ein Leben im Luxus sind sie nicht. Der Hausherr mit den weißen, leicht zerzausten Haaren trägt einen groben braunen Strickpullover, der an den Ärmeln schon etwas löchrig ist. Er zeigt auf das marode Dach und die einfach verglasten Fenster. »Ich hatte vor einigen Wochen einen Fachmann hier. Er hat sich das angeschaut und aufgegeben.« Mit dem Geld, das 130 neue Sprossenfenster mit Thermopenglas kosten würden, könne man problemlos ein hübsches Einfamilienhaus kaufen, seufzt Hope-Cobbold. Etwas zerstreut, doch durchaus freundlich führt er mich über sein Anwesen. Macht einen Abstecher in das weiße Festzelt, das man für Hochzeiten und andere Familienfeiern buchen kann. Öffnet die Tür zum Herrenhaus und schreitet durch den Speisesaal, auf dessen Tischen noch Blumengestecke vom Vorabend welken. Eine Festgesellschaft hatte sich eingemietet, um zwischen den hölzernen, ionischen Säulen zu dinieren. Überall, in Fluren und Räumen, haben sich Nippes, Porzellan, Ölgemälde, Antiquitäten angesammelt. Und wenn er Anekdoten aus längst vergangenen Tagen erzählt, scheint auch Philip Hope-Cobbold einer anderen Zeit anzugehören. Verblichen sind die Lederrücken der Bücher in der Bibliothek, zerschlissen die Teppiche. Die Farbe an den Fensterrahmen blättert ab, das Backsteingemäuer, das aus der Epoche der ersten Elisabeth stammt, zerbröselt.

»Es zerfällt auf charmante Weise, finden Sie nicht auch?«, fragt mich Veronica augenzwinkernd, als wir wieder draußen sind. Mir kommt es vor, als werde diese Welt eigens für die Gäste arrangiert, so sehr entspricht sie meiner Idee vom englischen Landleben: die Teakholzpfosten des Rasentennisplatzes von Glemham Hall, die säuberlich gestutzten Buchsbaumbüsche, die roten Geranien.

Ähnlich ergeht es mir am nächsten Tag, als wir zu einer Fuchsjagd aufbrechen. Szenen wie aus einem Buch von James Herriot tun sich vor mir auf. Damen und Herren in braunen und schwarzen Reitsakkos schwingen sich in die Sättel ihrer Pferde. Über die Stoppelfelder preschen sie davon, vorbei an dunkelgrünen Wäldern, bleigrau der Himmel über ihnen. Ich, der Nichtreiter, laufe über Feldwege, durchquere Rübenäcker, dem Klang der Jagdtrompete folgend, Ausschau haltend nach den roten Jacketts und schwarzen Kappen der Jäger, die die Gesellschaft anführen. Unterwegs begegnen mir Dorfbewohner in Gummistiefeln und Barbourjacken, die das Geschehen fachkundig verfolgen. Schauspiel oder Wirklichkeit? Das ist hier die Frage.

Samstagabend, Black-Tie-Dinner mit Freunden im Haus der Lotbinières. Veronicas Mann Giles schenkt Rosé-Champagner an die Gäste aus, unter dem Flügel liegt ein ausgestopfter Tiger, den der Großvater geschossen hat. Im Wintergarten gibt es später von Giles Geschossenes: Ente, am hauseigenen See erlegt, leicht zäh. Dazu light conversation, perlend und fein, wie sie wohl nur die britische Oberschicht beherrscht. Alle bemühen sich, mich ins Gespräch einzubeziehen, niemand gibt mir das Gefühl, ein Fremder zu sein.

Henry Beddingfield, den ich schon nachmittags beim Tee kennengelernt habe, fragt mich, ob es bei uns auch üblich sei, sich in Abendgarderobe zum Essen zu treffen. Ich (Leihsmoking, drei Tage für 125 Euro) gestehe ihm, dass so etwas in meinen Kreisen eher selten vorkommt. Never mind. Henry plaudert über seinen Smoking, den er von seinem Vater übernommen hat. Der Vater ist übrigens 94, der Anzug wurde vermutlich in den späten 1930ern geschneidert und sieht am Spiegelrevers leicht abgewetzt aus. Kein Wunder, denn Henry, königlicher Herold, Bewohner von Oxburgh Hall, 600 Jahre Familiengeschichte, hat nach eigenen Angaben ungefähr 165-mal in diesem Smoking gesteckt. Ich dagegen habe erst dreimal einen getragen. So verschieden sind unsere Welten.

Beim Dessert berichtet mir meine Nachbarin zur Rechten, dass es einmal im Jahr einen Ball gebe, bei dem man ein Diadem aufsetzen dürfe. Dann müsse sie sich entscheiden. Denn sie habe die Wahl zwischen dem Diadem ihrer Mutter und dem ihrer Schwiegermutter. Sie erzählt das beiläufig und kein bisschen snobby – so, als handele es sich lediglich darum, zwischen zwei Sommerkleidern auszusuchen.

Als ich um Mitternacht im Bett liege, grüne Samtkissen mich umringen und die Matratzenheizung gegen den aufziehenden englischen Herbst anwärmt, muss ich an meinen alten Englischlehrer denken. Im Gegensatz zu ihm habe ich einen unverkennbar deutschen Akzent – und eine große Schwäche für diese bloodsuckers, die über tausend Jahre Geschichte plaudern, als sei sie eben erst vergangen. Die das Kunststück vollbringen, sich dem Heute anzupassen und das Gestern zu bewahren. Sorry, Mister Knaup.

Erschienen in der ZEIT

 

 

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